Hilde Benjamin und Ostend

In der Literatur über Gertrud Kolmar (mit ihr beschäftige ich mich im Stadtteil Westend) fanden sich die Hinweise auf Hilde Benjamin.
Das war für mich unerwartet, denn ihr Name verband sich für mich mit dem Bild der harten, dogmatischen, verkniffenen Parteifrau. Und diese Täterin eines totalitären Regimes (als Richterin fällte sie zwei Todesurteile, als Justizministerin steuerte sie die Rechtssprechung im SED-Interesse)  pflegte nun also  eine Freundschaft zur Dichterin  Gertrud Kolmar. Eine Freundschaft, die weitaus tiefer war, als nur durch eine weitläufige verwandtschaftliche Beziehung begründet. Die "rote" oder "blutige Hilde" also rettete Gedichte und schrieb kluge Worte der Erinnerung an Kolmar.

Hilde Benjamin wurde so für mich zu einem exemplarischen Stellvertreter für viele der Herrscher in der DDR. An ihrem Beispiel zeigt sich, dass Antifaschismus nicht nur ein Gründungsmythos der DDR war. Da er später von ihrer Führung stilisiert und instrumentalisiert wurde – häufig perfide wie die Bezeichnung der Berliner Mauer als "antifaschistischer Schutzwall" -  will manche heutige DDR-Geschichtsschreibung ihn nun einzig auf diese propagandistischen Zwecke reduzieren.

Der Impuls zum Pluralismus war bei Hilde Benjamin wohl nie da (denn das Volk hatte ja Hitler in der Weimarer Republik  gewählt), so ging sie den Weg in einen neuen Totalitarismus: den Kommunismus. Unter Stalin ein Sieger der Geschichte und mit diesem ein Sieger gegen Hitler. Erst einmal gefangen im quasi religiösen Konstrukt der marxistisch, leninistisch, stalinistisch wissenschaftlichen und dialektischen (das macht’s sogar Brecht noch schmackhaft) Denkmethoden heiligt am Ende der Zweck jedes Mittel. Nur wenige fanden damals den  Absprung aus dieser Ideologiefalle. Zudem: Wohin sollten sie auch in jener Zeit der starken Polarisierung springen? Auch der Westen verfolgte nicht nur Kommunisten, sondern auch schon wieder unbequeme Meinungen (auch wenn deren Träger zumeist nicht im Gefängnis landeten). Und die starke Einbindung faschistischer Funktionsträger in die westdeutsche Gesellschaft wurde eher als Restauration betrachtet ("...der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch"). Ohne Mitgefühl für die Feinde der "besten Sache der Welt" fühlte Hilde Benjamin sich bestätigt im wütenden Haß ihrer Gegner auf das was sie tat und das als Frau.

Ich war dann erstaunt, dass  wichtige Momente aus Hilde Benjamins Leben  konkret mit Ostend  verknüpft waren: Am S-Bahnhof Wuhlheide traf sie heimlich ihren Mann Georg, der dort Zwangsarbeit leistete. An diesen Gleisen sah Georg Benjamin das letzte Mal seine Frau und seinen Sohn, bevor er sechzehn Tage später im KZ Mauthausen starb.

Diese letzten Begegnungen beschreibt Hilde Benjamin in dem Buch "Georg Benjamin", der Biographie ihres Mannes, die sie nach ihrer Zeit als Justizministerin schreibt:

"Arbeitserziehungslager" Wuhlheide

Die Informationen, die Georg Benjamin über das Lager Wuhlheide erhalten hatte, waren zum Teil richtig. Dieses Lager war ursprünglich entstanden als "echtes Erziehungslager", in das unbotmäßige ausländische Arbeitskräfte für einige Wochen zur "Erziehung" gebracht wurden. Es unterstand der SS, hatte aber Polizeikräfte als Bewacherpersonal. Im übrigen führte das Lager auf Grund von Verträgen mit Berliner Baufirmen Gleisbauarbeiten für die Reichsbahn, unter anderem auch am Bahnhof Wuhlheide, aus. Es war in Baracken im Berliner Stadtbezirk Lichtenberg untergebracht, auf einem Gelände, auf dem sich heute zum Teil der Tierpark befindet.
Am 10. Juli bekam ich einen telefonischen Anruf, der "Babypapa" arbeite am Bahnhof Wuhlheide. Ich möchte versuchen, dort hinzukommen und Proviant für einen Tagesausflug mitzubringen. Nach einem vergeblichen Versuch am Sonnabend, dem 11.Juli, fuhr ich am Montag, dem 13. Juli, erneut zum Bahnhof Wuhlheide. Ich hatte schon am Sonnabend eine Baustelle der Reichsbahn entdeckt, die parallel zum Bahnsteig des Bahnhofs Wuhlheide lag und von diesem aus beobachtet werden konnte. Nachdem ich längere Zeit auf dem Bahnsteig gesessen und die Lage beobachtet hatte, entdeckte ich plötzlich Georg Benjamin auf einem mit Sand beladenen Güterwagen. Er trug eine Art blauen Militäranzug. Wir sahen uns wohl gleichzeitig. Er gab ein Zeichen mit dem Arm, rief "dort hin", als ob es ein Arbeitsruf wäre, und ich ging in diese Richtung. Die Lage war so: Parallel zum Bahnsteig und den Personengleisen lief, nur durch die Gleise von den Fernzügen getrennt, ein Güterrangiergleis. Dahinter zogen sich Aufschüttungen von Sand hin mit verschiedenen Gleisen darauf für Lorenzüge. Die Loren wurden von dem Sandhaufen aus nun voll geschippt und dann in Güterwagen, die auf dem Rangiergleis standen, gekippt. Kam man aus dem Bahnhof, so führte eine Brücke, an deren beiden Seiten in einem kleinen Wachhaus ein Wärter saß, über den Bahnkörper. Die Brücke setzte sich, zunächst noch erhöht, in einer Waldstraße fort. Unterhalb der Straße stand auf einem Stück Ödland die zu dem Arbeitsplatz gehörende Baubude. Hinter diesem ziemlich breiten Streifen Ödland begann ein Waldstück. Ich lief die Böschung der Landstraße herunter, umging die Baubude, in der ich Aufsichtspersonal vermutete, und durchquerte das Waldstück so, daß ich wieder auf der Höhe des Bahnsteiges und der Baustelle herauskam. Gleichzeitig kam Georg Benjamin über den Sandhügel, wir steuerten beide auf einen Haufen Eisenbahnschwellen zu, der uns nach der Baustelle hin verbarg. Er reichte mir zuerst einen Zettel: "Nimm erst das" und dann weiter: "Schreibe Du auch immer auf, was Du zu sagen hast. Hast Du Essen da?" Er versteckte dann alle Eßsachen irgendwo am Körper, rief noch: "Du kommst doch nächste Woche wieder?" und lief zurück....
......Georg Benjamins Stimmung änderte sich ab Ende Juli. Das ergab sich nicht nur aus seinen Kassibern, sondern auch aus seinen Reden. Wir besprachen auch über die Zettelinformationen hinaus das Wichtigste. War im Anfang er es, der zur Vorsicht geraten, so war es jetzt umgekehrt. Je öfter ich kam, desto besorgter wurde ich, auf dem Bahnsteig mit dem geringen Verkehr, auf dem Weg an dem Brückenwärter vorbei, aufzufallen. Ich zog mich jedes Mal anders an, mit blauern Hut, ohne Hut, weißer Hut, Kopftuch. (Als ich nach seinem Abtransport mit einem der Brückenwärter sprach, sagte er, er hätte mich nie gesehen.) Wir trafen uns nun fast zweimal in der Woche. Ich nahm auch einmal den Jungen mit. Wir waren den ganzen Nachmittag in der Nähe der Arbeitsstelle gewesen, beobachteten von einer Erfrischungsbude aus, an der der Arbeitertrupp vorbeimarschierte, den Abzug der Truppe. Georg reihte sich als Letzter ein, er hatte wohl noch gegessen und ging dann in der vordersten Reihe, aufrecht und elastisch. Der Junge sagte: "Er wirkt ganz anders als die anderen, viel gesünder als die anderen", - die anderen, die verhungert und barfuß dahin trotteten, in den letzten Reihen einen Kameraden mit sich schleppten, der zusammengebrochen war. So sahen wir uns am 6., am 8. und am 10. August. Georg kam über die Böschung, winkte mir, ich solle im Wald bleiben und kam hinüber. Es sei ein neuer, guter Beamter da. Wir lagerten uns im Wald, ich packte den mitgebrachten Kartoffelsalat, Bouletten und Pudding mit Kirschen aus, und wir waren heiter, obgleich er erzählte: "Gestern abend war allerhand los bei uns. Sie haben die Juden beschuldigt, mit Zigaretten zu schieben. Es waren wüste Szenen." Ihm sei verhältnismäßig wenig geschehen, er scheine sich gewisser Sympathien zu erfreuen. Wir sprachen wieder über die Dauer des Krieges, er rechnete noch immer mit 1-2 Jahren bis zum Ende des Faschismus. Er machte sich Sorgen, ob wir so viel Lebensmittel für ihn aufbringen können; er fühle sich dank der zusätzlichen Ernährung wieder ganz in Ordnung und leistungsfähig. Wir verabredeten, daß ich Mittwoch wiederkommen solle. Nach meinen Notizen: "Dann saß ich auf dem Bahnsteig, und er zeigte seine Künste. Er sprang vom fahrenden Wagen und stellte die Weiche. (Später dachte ich: Wäre er doch dabei gestürzt, vielleicht hätte ihm das das Leben gerettet.) Er rangierte mit einer kleinen elektrischen Lokomotive hin und her. Bald winkte er von der Lokomotive herunter, bald kletterte er in einen Güterwagen zum Ausmessen. Die Wagen wurden immer weiter vom Bahnsteig weggeschoben, und er kletterte von einem Wagen in den anderen, immer weiter nach vorn von mir weg. Über dem Bahndamm zwischen den Wäldern hing gewittriger Mittagsdunst. Kaum sah ich noch, wie er die Mütze abnahm, über die Haare strich, die Hände dankend drückte. Der Zug verschwand im Dunst, war nicht mehr zu sehen. Ich tröstete mich: auf Mittwoch."
Doch am Mittwoch wartete ich vergebens. Es war das letzte Mal.




Literaturhinweise:


Hilde Benjamin
Georg Benjamin
S.Hirzel Verlag, Leipzig 1977

Marianne Brentzel
Die Machtfrau: Hilde Benjamin 1902 – 1989
Christoph Links Verlag, Berlin 1997

Hilde Benjamin, eine Biografie
Autor: Andrea Feth
Bwv - Berliner Wissenschafts-Verlag (1. Januar 1997)
ISBN-10: 3870616091
ISBN-13: 978-3870616090